Und es vergeht doch nicht


"And Time Passed by": digitale Collage von Anwar Al-Mutairi
And Time Passed by: digitale Collage von Anwar Al-Mutairi
https://www.behance.net/gallery/7306515/And-Time-Passed-By

Das Lied erklingt aus dem Plattenspieler, der Raum duftet nach Kaffee und hinter den Vorhängen sind feine Regentropfen sichtbar. Sie sitzt am Schreibtisch, ihre rechte Hand liegt schräg an der rechten Wange und der Ellbogen auf dem Tisch. Mit der linken Hand kritzelt sie zusammenhangslose Wörter und Sätze. Sie wartet, hört nicht auf und schreibt weiter, bis ihre Worte einen Sinn ergeben. Währenddessen fließt Om Kalthoums Stimme im Hintergrund:

,,Mir wurde die Geduld verschrieben,
jedoch empfand ich diese als Trugbild,
und Worte über die Liebe,
die kaum gesprochen werden können.“

Das Lied läuft weiter, und sie versucht weiterzuschreiben, nachdenklich. Sie weiß längst, dass etwas ungesagt in ihr drängt, dass Worte gesucht werden müssen, um einen inneren Schmerz aufzulösen. Sie greift nach der Tasse und nimmt einen Schluck. Plötzlich zieht sich ihr Herz zusammen. Ihre Augen schließen sich und die ersten Tränen rollen über ihr Gesicht. Eine Gänsehaut überzieht ihren Körper, während Om Kalthoum sehnsuchtsvoll fragt:

Wohin soll ich fliehen, wenn ich meinem Herzen entkomme?
Unsere schönen Nächte sind überall,
wir füllten sie mit Liebe, wir beide.
Und wir füllten die Welt mit Hoffnung –
Hoffnung und Zärtlichkeit.

Ihr Kopf dreht sich zum Fenster. Ihre Augen geben der natürlichen Szene hinter dem Fenster die Schuld und sie fragen, wie Orte seelischen Schmerz hervorrufen können. Die Tränen fallen weiter, ihr Blick richtet sich zurück auf das Papier und ihre linke Hand beginnt, Ort und Erinnerungen zu rekonstruieren. Personen und Szenen erscheinen; alles ist schmerzhaft. Die Wunde ist immer noch da, stellt sie fest. Eine große Ungeheilte, die ihren ganzen Körper überflutet. Vergangene Erinnerungsorte schreibt sie als Überschrift und am unteren Seitenrand notiert sie das Datum. Ja, das Datum ist für sie von tiefgreifender Bedeutung. Es ist der Beweis für ihre Geduld und zeigt, wie sie diese schmerzhaften Zeiten überwand. Sie steht auf, geht ins Badezimmer, zieht ihr Seidenschlafkleid aus und betrachtet ihren ganzen Körper im Spiegel. Jeder Körperteil scheint einen Ort zu reflektieren, an dem sich ein Teil ihrer tiefen Wunde befindet. Und wieder tauchen Personen und Szenen auf. Sie stellt sich unter die Dusche, lässt das warme Wasser mit ihren fallenden Tränen nach Heilung suchen. Anschließend zieht sie sich an, nimmt ihre Haare mit der rechten Hand von hinten nach vorne und bürstet sie langsam und sanft von oben nach unten, als wolle sie die Schmerzen fortwehen lassen.

In ihrer Lieblingsecke im Schlafzimmer zündet sie geruhsam ein Räucherstäbchen an. „Ich lebe in einem Frühling, der nicht wahr sein kann, zwischen Sehnsucht, die niemals endet, und Sehnsucht, die schon begann“. Mit aufgebrauchter Geduld legt sie die Schallplatte ab und wählt eine Neue aus

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