Wie drückt man das Unsagbare aus, den Schmerz eines zerrissenen
Jahrhunderts und
die
Grenzerfahrung von Krieg, Körper und Kunst? Der expressionistische
Lyriker und Arzt Gottfried Benn (1886–1956)
ging
in
seiner
Gedichtsammlung
Fleisch
einen radikalen Schritt: Mit der Präzision eines Chirurgen und der
Wucht eines Dichters, der keine Rücksicht auf Schöngeistiges nahm,
sezierte er in seinen Texten die menschliche Existenz. Doch Fleisch
ist mehr als eine Sammlung verstörender Gedichte. Es ist das Produkt
eines Netzwerks aus Literatur, Kunst und politischem Widerstand,
vereint in der Zeitschrift Die
Aktion,
die zu einer zentralen Bühne des deutschen Expressionismus wurde. In
diesem Beitrag werden Entstehung, Struktur und mediale Inszenierung
dieses einzigartigen Werks näher beleuchtet.
Der
Ausdruck einer inneren Zerrissenheit
Die
Erlebnisse des Ersten Weltkrieges, die bei vielen expressionistischen
Dichter:innen und Künstler:innen zu persönlichen Krisen führten, eröffneten
ihnen neue Perspektiven auf die Wirklichkeit. Nicht mehr die
Darstellung äußerer Lebensumstände stand im Vordergrund, sondern
das innere Erleben. Der Erfolg dieses Prozesses, das Innere nach
außen zu kehren, wurde nicht an traditionellen Maßstäben wie
Schönheit gemessen, sondern an der Ausdruckskraft, die durch starke
Emotionalität und Leidenschaft das Publikum fesselte.
Typisch für die Lyrik des Expressionismus sind die Verwendung
starker, oft verstörender Bilder und Metaphern, die Dynamisierung
der Sprache sowie die Verwendung von Alliterationen und rhythmischen
Brüchen, um eine schockierende Wirkung zu erzielen.
Die thematische Betonung von Aspekten wie Verfall, Tod und
existenzieller Sinnsuche verweist auf die zentrale Bedeutung von
Themen, die mit der Erfahrung von Zerrissenheit und der Suche nach
einem tieferen Sinn des eigenen Daseins verbunden sind.
Die
Zeitschrift Die Aktion: Ort des literarischen Widerstands
Die
Expressionist:innen traten in Gruppen oder einzelnen Kreisen auf, die
sich in verschiedenen Städten bildeten. Sie strebten auch nach
gemeinsamen Publikationsformen wie Zeitschriften, Verlagsreihen
und Anthologien. Im März 1917 erschien Fleisch
des Arztes und Dichters Gottfried Benn als dritter Band der
Aktions-Lyrik, welcher
von Franz Pfemfert (1879–1954)
herausgegeben wurde.
Pfemfert war ein Publizist gegen Nationalismus und Militarismus.
Seine Zeitschrift Die
Aktion, die von 1911
bis 1932 in Berlin erschien (ab 1912 mit dem Untertitel Wochenschrift
für Politik, Literatur und Kunst),
war ein wichtiges Organ des deutschen Expressionismus und wurde als
„einziges
bürgerliches Blatt in Deutschland“
bezeichnet. „Die
Aktion
vereinigte, kompromißloser als alle anderen vergleichbaren Blätter
und Literatenzirkel der Vorkriegs- und Kriegszeit, bedingungslose
Opposition gegen den Krieg. Antimilitarismus und Ablehnung des
wilhelminischen Obrigkeitsstaates mit dem ästhetischen
Avantgardismus des Expressionismus. Namhafte Lyriker wie Georg Heym,
Jakob van Hoddis, Johannes R. Becher, Gottfried Benn und Ernst
Stadler sowie bildende Künstler, darunter Max Oppenheimer, Ludwig
Meidner, Karl Schmitt-Rottluff und Egon Schiele, um nur einige zu
nennen, lieferten der Aktion - übrigens ohne Honorar - literarische
und graphische Beiträge.“.
Die Aktion
diente
somit als Plattform für die Präsentation künstlerischer und
literarischer Werke. Die Bedeutung des Verlags zeigt sich also nicht
nur in seiner politischen Haltung, sondern auch in seiner
literarischen und künstlerischen Förderung des Expressionismus. „Es
ist die Kunst des Expressionismus, die besonders seit 1914 meist in
Originaldrucken in der „Aktion“ erscheint.“.
Fleisch
als Gedichtsammlung: Struktur und Auswahl
Die
Materialphilologie
in Fleisch
zeigt die komplexe Interaktion zwischen Verlag, Autor und Text. Sie
erfordert eine
Untersuchung der gedruckten Werke, ihrer Entstehungs- und
Verlagsgeschichte sowie der intermedialen Einflüsse. Dies gilt
insbesondere für Gottfried Benns Gedichtband Fleisch. Vor
der Veröffentlichung von Fleisch
wurden mehrere Gedichte aus der
Gedichtsammlung in der
Aktion-Wochenschrift
abgedruckt. So erschien Benns Gedicht Plakat
in der Ausgabe vom 6. Januar 1917, Nachtcafé
in der Ausgabe vom 3. Januar 1914 und die ersten fünf Gedichte des
Zyklus Alaska
in der Ausgabe vom 26. Februar 1913, gefolgt von weiteren fünf
Gedichten am 18. Juni 1913. Neben der Veröffentlichung von Benns
Gedichten nahm er an Lesungen und Veranstaltungen mit anderen Autor:innen und Künstler:innen wie Max Oppenheimer teil, die von Der
Aktion organisiert
wurden. Die enge Bindung an den Verlag stellte für Benn eine
wichtige Plattform für die Veröffentlichung seiner literarischen
Texte dar und trug zu deren Popularität bei. Die Anordnung der
Gedichte in Fleisch
folgt einer thematischen und teilweise chronologischen Struktur. Im
Gegensatz zur Einzelveröffentlichung in der Zeitschrift, in der die
Werke ohne direkten Bezug zueinander standen, ermöglicht die
Sammlung eine strukturierte Zusammenstellung, die eine tiefere und
kohärentere Interpretation erfordert. „Neben den Zeitschriften
sind die Textsammlungen in Anthologien […] und Heftreihen von
besonderer Bedeutung für die Rezeption expressionistischer Werke.“
Die Gedichte Der
Arzt (1917) und Der
Psychiater (1917)
rahmen die Sammlung ein, während Morgue
(1912), Nachtcafé
(1914), Alaska
(1913) und Karyatide
(1916) im Zentrum positioniert sind. Die sorgfältige Anordnung der
Gedichte zielt darauf ab, bestimmte Themen und eine bestimmte Abfolge
hervorzuheben. Besonders deutlich wird dies im Gedichtzyklus Alaska,
dessen letzte fünf Gedichte Benn gegenüber der ursprünglichen
Veröffentlichung in der Zeitschrift stark überarbeitete.
Bilder
und Verse: Die visuelle Dimension
Ein
wichtiges Merkmal von
Fleisch ist die
Intermedialität, die sich in der Integration von Bildern in das Werk
manifestiert. Diese Einbindung gibt Aufschluss über die
Gemeinsamkeiten zwischen dem Expressionismus in der Malerei und dem
literarischen Expressionismus. „Der
Maler als Gefährte des Dichters im Expressionismus – in der
„Aktion“ wird diese Gemeinschaft Wirklichkeit.”
Die Illustration auf dem Vorderumschlag sowie die beiden Tafeln im
Buch stammen von Max Oppenheimer (1885–1954),
auch
bekannt unter dem Kürzel „MOPP“. Er war bekannt für seine
expressionistischen Kunstwerke und ein regelmäßiger und wichtiger
Illustrator der Aktion-Wochenschrift.
Seine Zeichnungen für Benns Gedichtsammlung sind für das
Verständnis und die Rezeption des Werkes von entscheidender
Bedeutung.
Die
Umschlagzeichnung stellt eine medizinische Operation dar und basiert
auf dem Kunstwerk Operation
(1912),
das
erstmals in der Ausgabe der Aktion-Wochenschrift
vom 30. März 1917 erschien.
Sie ergänzt die düstere und klinische Atmosphäre von Benns
Gedichten und unterstreicht die Bedeutung des menschlichen Körpers
und medizinischer Themen, die in Benns Gedichten eine zentrale Rolle
spielen.
 |
Operation auf dem Cover von Fleisch |
 |
Operation in der Aktion-Wochenschrift (1917) |
Die
beiden Tafeln im Buch verstärken die thematischen und ästhetischen
Aspekte der Gedichtsammlung. Die erste Zeichnung Judith
(1912), die erst in der
Ausgabe Nr. 20 der
Aktion-Wochenschrift
von
1914 veröffentlicht wurde, könnte sich auf die biblische Figur
Judith beziehen, die den Assyrer Holofernes tötete. Der Akt des
Tötens und die Nacktheit in der Zeichnung von MOPP symbolisieren
sowohl sexuelle als auch aggressive Aspekte, die in der
Gedichtsammlung häufig thematisiert wurden. Die zweite Zeichnung,
die am 1. Mai 1915 unter der
Bezeichnung
Federzeichnung
veröffentlicht
wurde, zeigt einen nackten Mann ohne Kopf und Arme. Diese Darstellung
kann mit der des enthaupteten Holofernes verglichen werden, da sie
die Zerstörung und den Zerfallszustand des menschlichen Körpers
zeigt, die in den Gedichten thematisiert wurden. Die Platzierung der
Zeichnungen am Anfang und am Ende der Gedichtsammlung schafft einen
visuellen Rahmen, der die Themen unterstreicht.
 |
Judith von Max Oppenheimar (1914) |
 |
eine Federzeichnung von Max Oppenheimer (1915) |
Fazit
Mit
Fleisch
schuf Gottfried Benn ein Werk, das nicht nur durch seine Inhalte,
sondern auch durch seine Form, seine Veröffentlichungspraxis und
seine Bildsprache neue Maßstäbe setzte. Die Verbindung von
Literatur, politischer Haltung und bildender Kunst zeigt, wie
umfassend der Expressionismus als ästhetische und gesellschaftliche
Bewegung gedacht war. Die Rolle des Verlags Die
Aktion, die enge
Zusammenarbeit zwischen Pfemfert, Benn und Oppenheimer sowie die
sorgfältige Anordnung und Präsentation der Gedichte und
Illustrationen unterstreichen die Bedeutung des Gesamtkonzepts.
Heute,
über ein Jahrhundert später, wirkt dieses Projekt nicht etwa
antiquiert; im Gegenteil: Es erinnert uns daran, dass echte
künstlerische Radikalität nicht nur
auf
Effekt, sondern auch
auf Wahrhaftigkeit zielt. Fleisch
bleibt ein Dokument des Ausdruckswillens in
einer Epoche existenzieller Erschütterung
und
ein Meilenstein der modernen Literaturgeschichte.
Fußnoten
Comments
Post a Comment