"Fleisch" von Gottfried Benn: Ein expressionistisches Gesamtkunstwerk zwischen Körper, Krieg und Kunst


Operation von Max Oppenheimar (1912)
https://sbirky.ngprague.cz/en/dielo/CZE:NG.O_4153


Wie drückt man das Unsagbare aus, den Schmerz eines zerrissenen Jahrhunderts und die Grenzerfahrung von Krieg, Körper und Kunst? Der expressionistische Lyriker und Arzt Gottfried Benn (1886–1956) ging in seiner Gedichtsammlung Fleisch einen radikalen Schritt: Mit der Präzision eines Chirurgen und der Wucht eines Dichters, der keine Rücksicht auf Schöngeistiges nahm, sezierte er in seinen Texten die menschliche Existenz. Doch Fleisch ist mehr als eine Sammlung verstörender Gedichte. Es ist das Produkt eines Netzwerks aus Literatur, Kunst und politischem Widerstand, vereint in der Zeitschrift Die Aktion, die zu einer zentralen Bühne des deutschen Expressionismus wurde. In diesem Beitrag werden Entstehung, Struktur und mediale Inszenierung dieses einzigartigen Werks näher beleuchtet.

Der Ausdruck einer inneren Zerrissenheit

Die Erlebnisse des Ersten Weltkrieges, die bei vielen expressionistischen Dichter:innen und Künstler:innen zu persönlichen Krisen führten, eröffneten ihnen neue Perspektiven auf die Wirklichkeit. Nicht mehr die Darstellung äußerer Lebensumstände stand im Vordergrund, sondern das innere Erleben. Der Erfolg dieses Prozesses, das Innere nach außen zu kehren, wurde nicht an traditionellen Maßstäben wie Schönheit gemessen, sondern an der Ausdruckskraft, die durch starke Emotionalität und Leidenschaft das Publikum fesselte.1 Typisch für die Lyrik des Expressionismus sind die Verwendung starker, oft verstörender Bilder und Metaphern, die Dynamisierung der Sprache sowie die Verwendung von Alliterationen und rhythmischen Brüchen, um eine schockierende Wirkung zu erzielen.2 Die thematische Betonung von Aspekten wie Verfall, Tod und existenzieller Sinnsuche verweist auf die zentrale Bedeutung von Themen, die mit der Erfahrung von Zerrissenheit und der Suche nach einem tieferen Sinn des eigenen Daseins verbunden sind.

Die Zeitschrift Die Aktion: Ort des literarischen Widerstands

Die Expressionist:innen traten in Gruppen oder einzelnen Kreisen auf, die sich in verschiedenen Städten bildeten. Sie strebten auch nach gemeinsamen Publikationsformen wie Zeitschriften, Verlagsreihen und Anthologien. Im März 1917 erschien Fleisch des Arztes und Dichters Gottfried Benn als dritter Band der Aktions-Lyrik, welcher von Franz Pfemfert (1879–1954) herausgegeben wurde. Pfemfert war ein Publizist gegen Nationalismus und Militarismus. Seine Zeitschrift Die Aktion, die von 1911 bis 1932 in Berlin erschien (ab 1912 mit dem Untertitel Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst), war ein wichtiges Organ des deutschen Expressionismus und wurde als „einziges bürgerliches Blatt in Deutschland“3 bezeichnet. Die Aktion vereinigte, kompromißloser als alle anderen vergleichbaren Blätter und Literatenzirkel der Vorkriegs- und Kriegszeit, bedingungslose Opposition gegen den Krieg. Antimilitarismus und Ablehnung des wilhelminischen Obrigkeitsstaates mit dem ästhetischen Avantgardismus des Expressionismus. Namhafte Lyriker wie Georg Heym, Jakob van Hoddis, Johannes R. Becher, Gottfried Benn und Ernst Stadler sowie bildende Künstler, darunter Max Oppenheimer, Ludwig Meidner, Karl Schmitt-Rottluff und Egon Schiele, um nur einige zu nennen, lieferten der Aktion - übrigens ohne Honorar - literarische und graphische Beiträge.“4. Die Aktion diente somit als Plattform für die Präsentation künstlerischer und literarischer Werke. Die Bedeutung des Verlags zeigt sich also nicht nur in seiner politischen Haltung, sondern auch in seiner literarischen und künstlerischen Förderung des Expressionismus. „Es ist die Kunst des Expressionismus, die besonders seit 1914 meist in Originaldrucken in der „Aktion“ erscheint.“.5

Fleisch als Gedichtsammlung: Struktur und Auswahl

Die Materialphilologie6 in Fleisch zeigt die komplexe Interaktion zwischen Verlag, Autor und Text. Sie erfordert eine Untersuchung der gedruckten Werke, ihrer Entstehungs- und Verlagsgeschichte sowie der intermedialen Einflüsse. Dies gilt insbesondere für Gottfried Benns Gedichtband FleischVor der Veröffentlichung von Fleisch wurden mehrere Gedichte aus der Gedichtsammlung in der Aktion-Wochenschrift abgedruckt. So erschien Benns Gedicht Plakat in der Ausgabe vom 6. Januar 1917, Nachtcafé in der Ausgabe vom 3. Januar 1914 und die ersten fünf Gedichte des Zyklus Alaska in der Ausgabe vom 26. Februar 1913, gefolgt von weiteren fünf Gedichten am 18. Juni 1913. Neben der Veröffentlichung von Benns Gedichten nahm er an Lesungen und Veranstaltungen mit anderen Autor:innen und Künstler:innen wie Max Oppenheimer teil, die von Der Aktion organisiert wurden. Die enge Bindung an den Verlag stellte für Benn eine wichtige Plattform für die Veröffentlichung seiner literarischen Texte dar und trug zu deren Popularität bei. Die Anordnung der Gedichte in Fleisch folgt einer thematischen und teilweise chronologischen Struktur. Im Gegensatz zur Einzelveröffentlichung in der Zeitschrift, in der die Werke ohne direkten Bezug zueinander standen, ermöglicht die Sammlung eine strukturierte Zusammenstellung, die eine tiefere und kohärentere Interpretation erfordert. „Neben den Zeitschriften sind die Textsammlungen in Anthologien […] und Heftreihen von besonderer Bedeutung für die Rezeption expressionistischer Werke.“7 Die Gedichte Der Arzt (1917) und Der Psychiater (1917) rahmen die Sammlung ein, während Morgue (1912), Nachtcafé (1914), Alaska (1913) und Karyatide (1916) im Zentrum positioniert sind. Die sorgfältige Anordnung der Gedichte zielt darauf ab, bestimmte Themen und eine bestimmte Abfolge hervorzuheben. Besonders deutlich wird dies im Gedichtzyklus Alaska, dessen letzte fünf Gedichte Benn gegenüber der ursprünglichen Veröffentlichung in der Zeitschrift stark überarbeitete.

Bilder und Verse: Die visuelle Dimension

Ein wichtiges Merkmal von Fleisch ist die Intermedialität, die sich in der Integration von Bildern in das Werk manifestiert. Diese Einbindung gibt Aufschluss über die Gemeinsamkeiten zwischen dem Expressionismus in der Malerei und dem literarischen Expressionismus. „Der Maler als Gefährte des Dichters im Expressionismus – in der „Aktion“ wird diese Gemeinschaft Wirklichkeit.”8 Die Illustration auf dem Vorderumschlag sowie die beiden Tafeln im Buch stammen von Max Oppenheimer (1885–1954), auch bekannt unter dem Kürzel „MOPP“. Er war bekannt für seine expressionistischen Kunstwerke und ein regelmäßiger und wichtiger Illustrator der Aktion-Wochenschrift. Seine Zeichnungen für Benns Gedichtsammlung sind für das Verständnis und die Rezeption des Werkes von entscheidender Bedeutung.
Die Umschlagzeichnung stellt eine medizinische Operation dar und basiert auf dem Kunstwerk Operation (1912), das erstmals in der Ausgabe der Aktion-Wochenschrift vom 30. März 1917 erschien. Sie ergänzt die düstere und klinische Atmosphäre von Benns Gedichten und unterstreicht die Bedeutung des menschlichen Körpers und medizinischer Themen, die in Benns Gedichten eine zentrale Rolle spielen. 


 Operation auf dem Cover von Fleisch 


Operation in der Aktion-Wochenschrift (1917)

Die beiden Tafeln im Buch verstärken die thematischen und ästhetischen Aspekte der Gedichtsammlung. Die erste Zeichnung Judith (1912), die erst in der Ausgabe Nr. 20 der Aktion-Wochenschrift von 1914 veröffentlicht wurde, könnte sich auf die biblische Figur Judith beziehen, die den Assyrer Holofernes tötete. Der Akt des Tötens und die Nacktheit in der Zeichnung von MOPP symbolisieren sowohl sexuelle als auch aggressive Aspekte, die in der Gedichtsammlung häufig thematisiert wurden. Die zweite Zeichnung, die am 1. Mai 1915 unter der Bezeichnung Federzeichnung veröffentlicht wurde, zeigt einen nackten Mann ohne Kopf und Arme. Diese Darstellung kann mit der des enthaupteten Holofernes verglichen werden, da sie die Zerstörung und den Zerfallszustand des menschlichen Körpers zeigt, die in den Gedichten thematisiert wurden. Die Platzierung der Zeichnungen am Anfang und am Ende der Gedichtsammlung schafft einen visuellen Rahmen, der die Themen unterstreicht. 

                

 Judith von Max Oppenheimar (1914) 


eine Federzeichnung von Max Oppenheimer (1915)

Fazit

Mit Fleisch schuf Gottfried Benn ein Werk, das nicht nur durch seine Inhalte, sondern auch durch seine Form, seine Veröffentlichungspraxis und seine Bildsprache neue Maßstäbe setzte. Die Verbindung von Literatur, politischer Haltung und bildender Kunst zeigt, wie umfassend der Expressionismus als ästhetische und gesellschaftliche Bewegung gedacht war. Die Rolle des Verlags Die Aktion, die enge Zusammenarbeit zwischen Pfemfert, Benn und Oppenheimer sowie die sorgfältige Anordnung und Präsentation der Gedichte und Illustrationen unterstreichen die Bedeutung des Gesamtkonzepts.
Heute, über ein Jahrhundert später, wirkt dieses Projekt nicht etwa antiquiert; im Gegenteil: Es erinnert uns daran, dass echte künstlerische Radikalität nicht nur auf Effekt, sondern auch auf Wahrhaftigkeit zielt. Fleisch bleibt ein Dokument des Ausdruckswillens in einer Epoche existenzieller Erschütterung und ein Meilenstein der modernen Literaturgeschichte. 


Fußnoten

1Vgl. Helmut Hoffacker, „Expressionismus“, in Deutsche Literaturgeschichte, 2., überarb. u. erw. Aufl., hrsg. von Wolfgang Beutin et al. (Stuttgart: J. B. Metzler, 1984), 311.

2 Vgl. Wilhelm Große, „Epoche“, in Literaturwissen: Expressionismus (Stuttgart: Reclam, 2007), 81.

3 Die Anzeige der Aktion-Wochenschrift in Benns Gedichtsammlung Fleisch.

4 Lothar Peter, „Franz Pfemfert“, in Demokratische Wege: Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten, hrsg. von Manfred Asendorf und Rolf von Bockel (Stuttgart/Wien: J. B. Metzler, 1997), 476.

5Paul Raabe, „Einführung“, in Die Aktion, hrsg. von Franz Pfemfert (Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 1916), 14.

6Materialphilologie ist ein theoretischer Ansatz in der Literaturwissenschaft, der sich auf die physische und historische Materialität von Texten konzentriert. Sie untersucht, wie die Entstehung, Überlieferung und Rezeption eines literarischen Werks durch die materiellen Bedingungen seiner Produktion und Verbreitung beeinflusst wird. Dazu gehören Aspekte wie Handschriften, Notizen, Layouts, Druckverfahren und die sozialen und kulturellen Kontexte, in denen das Werk verfasst und verbreitet wird. Der Ansatz stellt also das Werk in den Mittelpunkt, aber nicht nur im Hinblick auf seinen Inhalt, sondern auch als Produkt seiner materiellen und historischen Umstände.

7Christine Kanz, „Expressionismus (1910–1920)“, in Deutsche Literaturgeschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Wolfgang Beutin et al. (Berlin: J. B. Metzler, 2010), 371.

8Paul Raabe, „Einführung“, in Die Aktion, hrsg. von Franz Pfemfert (Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 1916), 14. 


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