Die Theaterkupfer von "Emilia Galotti": Eine visuelle Brücke zwischen Bühne und Buch im 18. Jahrhundert

 

Ein Kupferstich von Emilia Galotti im Gothaischen Hofkalender zum Nutzen und Vergnügen 
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Taschenbücher und Almanachen: Medienwandel im 18. Jahrhundert


Der Medienwandel im 18. Jahrhundert, insbesondere die Verbreitung von Taschenbüchern und Almanachen, war für die Distribution literarischer Werke und ihrer visuellen Repräsentationen von entscheidender Bedeutung. Ursprünglich waren Taschenbücher und Almanache kleine Bücher, die der Unterhaltung und Bildung des Bürgertums dienten. Die Idee bestand darin, neben dem Jahreskalender eine Sammlung kleiner, belehrender und unterhaltender Texte anzubieten. Mit der Zeit wuchs die Nachfrage nach diesen Büchern und es wurden nach und nach Kupferstiche hinzugefügt.1

Theaterkupfer als Medium zwischen Literatur und bildender Kunst


Die Theaterkupfer wurden nicht in den publizierten Theaterstücken abgedruckt, sondern erschienen in Almanachen, Kalendern und Theaterzeitschriften oder wurden einzeln verkauft.2 Sie stellen eine wichtige Schnittstelle zwischen Literatur und bildender Kunst im 18. Jahrhundert dar, indem sie eine Doppelfunktion erfüllten. Einerseits dienten sie als dekorative Elemente in Büchern und Almanachen, andererseits waren sie wichtige visuelle Informationsträger für literarische und dramatische Werke. Während Theateraufführungen oft auf bestimmte Städte und Orte beschränkt waren, ermöglichten es die Kupferstiche in Almanachen, literarische und dramatische Werke einem weitaus größeren Publikum zugänglich zu machen.

Emilia Galotti im Gothaischen Hofkalender 1775: Kupferstiche von Johann Wilhelm Meil

1774 veröffentlichte Johann Christian Dieterich den französischen Almanach de Gotha contenant diverses connoissances curieuses et utiles, pour l’Année MDCCLXV. Ein Jahr später erschien seine deutsche Version unter dem Titel Gothaischer Hofkalender zum Nutzen und Vergnügen für das nächste Jahr. Er enthielt die Stammbäume und Familiengeschichten der europäischen und deutschen Fürstenhäuser. Hinzu kamen Informationen, darunter literarische und bibliographische Hinweise3, aber eben auch Kupferstiche bekannter Künstler zu literarischen Werken, wie die von Johann Wilhelm Meil.Der Gothaische Holfkalender hat für das Jahr 1774 eine Folge einiger von Meil gestochenen Scenen aus dem Singspiel, die Jagd und für das Jahr 1775, eine dergleichen Folge aus der Emilia Galotti geliefert […].“4 Diese Veröffentlichung erfolgte im selben Jahr, nachdem Gotthold Ephraim Lessings Werk am 9. Juli 1774 zum ersten Mal im Gothaer Hoftheater unter der Leitung des Schauspielers Konrad Ekhof uraufgeführt wurde.5 Johann Wilhelm Meil illustrierte insgesamt zwölf Szenen aus Emilia Galotti, wobei er jeweils ein bis drei Auftritte darstellte.

Szenische Darstellung und Inszenierungsnähe

Eine genaue Analyse der Kupferstiche zeigt, dass sich Meil offensichtlich an einer konkreten Aufführung orientierte. Dies wird besonders an der Abweichung von der im Buch festgelegten Reihenfolge der Auftritte deutlich. So vertauschte er die Nummerierung der Auftritte im ersten Akt, was darauf hindeutet, dass er sich bei seiner Arbeit an einer Inszenierung orientierte und die entsprechenden Szenen skizzierte. Ein Beispiel dafür ist die Darstellung des ersten Auftritts im ersten Akt auf dem Kupferstich, bei der Prinz und Conti mit den Gemälden erscheinen. Diese Beschreibung bzw. Darstellung gehört jedoch zum vierten Auftritt in Lessings Werk: „Der Prinz. Conti, mit den Gemälden, wovon er das eine verwandt gegen einen Stuhl lehnet“.6 Dadurch lässt sich feststellen, dass Meil eine Aufführung des Theaterstücks als Vorlage für seine Kupferstiche verwendete.

Diese Szene steht in Lessings Werk
in Akt 1, Auftritt 4.
Diese Szene steht in Lessings Werk
 in Akt 1, Auftritt 1.

Körpersprache und Mimik: Die Ausdruckskraft der Kupferstiche zu Emilia Galotti
Durch die Skizzierung der Inszenierung im Raum und der Körperhaltungen der Figuren in den Kupferstichen erkennt man nicht nur, welche Auftritte Meil zeichnete, sondern auch die genaue Stelle in Emilia Galotti. Darüber hinaus zeigen sie die Darsteller in ihren Rollen. Ein gutes Beispiel ist der Theaterkupferstich des sechsten Auftritts im zweiten Akt, der die Körperhaltung, Gestik und Mimik genau wiedergibt. Das Gesicht und der Körper der Emilia sind so genau gezeichnet, dass man die Stelle in diesem Auftritt erkennt: „Emilia. (stürzet in einer ängstlichen Verwirrung herein) Wohl mir! Wohl mir! Nun bin ich in die Sicherheit. Oder ist er mir gar gefolgt? (indem sie den Schleyer zurück wirft und ihre Mutter erblickt) […].“7
Emilia Galotti: Akt 2, Auftritt 6

Konrad Ekhof als Odoardo Galotti

Besonders auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen der Figur des Odoardo Galotti und dem Schauspieler Konrad Ekhof. Er selbst spielte die Rolle des Vaters und trug maßgeblich zur Bekanntheit und Popularität der Inszenierung bei. Diese Nähe zum Schauspieler zeigt, dass Meil die Darsteller als integralen Bestandteil seiner Kunst betrachtete. „Zum einen ist das die Kunst mimischer und pathognomischer Darstellungen in Theorien der Schauspielkunst, zum anderen die Überlegung, dass jeder Akteur auf der Bühne mit seinem Körper Leidenschaften und Affekte malt und damit sowohl hervorbringender Künstler als auch das Kunstwerk selbst ist.“8 Die Darstellung Ekhofs als Odoardo verbindet die literarische Vorlage mit der realen Aufführung von 1774 in Gotha und macht die Kupferstiche zu einem einzigartigen Zeugnis der Theatergeschichte.

Das Bühnenbild als Vorlage der Kupferstiche?

Man könnte auch noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass ledeglich das Bühnenbild der Aufführung von Emilia Galotti in Gotha im Jahr 1774 die Vorlage der Kupferstiche bildet und sie deshalb im Gothaischen Hofkalender veröffentlicht wurden. Eine genaue Analyse der Körperhaltungen und der Darstellung der Figuren in den Kupferstichen könnte weitere Hinweise auf die Inszenierungspraxis und die Bühnenbilder dieser Zeit liefern. Damit ließe sich auch die Frage beantwortet, warum Meils Kupferstiche von Emilia Galotti erst im Jahr 1774 im Gothaischen Hofkalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1775 veröffentlicht wurden und nicht bereits vorher.

Ein dreifacher Rezeptionsraum für Emilia Galotti

Im Vergleich zu einer Aufführung, bei der ein Theaterstück auf der Bühne die Zuschauer verbindet, öffnen Meils Theaterkupfer zu Emilia Galotti einen Raum, in dem das Theaterstück, die Bühne und die Lesenden gemeinsam existieren. Darüber hinaus zeigen Meils Theaterkupfer, wie unterschiedlich die Medien Literatur und bildende Kunst dieselbe Geschichte erzählen und darstellen können. Während der Text die Handlung durch Sprache und Dialoge vorantreibt, um die Charaktere zu entwickeln, fangen die Kupferstiche die entscheidenden Momente visuell ein, um sie anschaulich zu machen. Diese visuelle Darstellung ermöglicht es, bestimmte Aspekte der Handlung und der Charaktere hervorzuheben, die in schriftlicher Form subtiler sein können. Darüber hinaus bieten die Theaterkupfer eine bleibende visuelle Vorstellung der dargestellten Szenen. So wurden beispielsweise die Kostüme sehr detailliert wiedergegeben, um die Mode und den Stil der dargestellten Epoche zu repräsentieren. Sie tragen zur Authentizität und zum Verständnis der dargestellten Charaktere bei und helfen, sie zu definieren und ihren sozialen Rollen zuzuordnen. Auf dem Theaterkupfer des dritten Auftritts im zweiten Akt ist Angelo genau so gezeichnet, wie er in Lessings Werk beschrieben wird: „noch halb hinter der Scene, in einem kurzen Mantel, dener über das Gesicht gezogen, den Hut in die Stirne“.9 Somit eröffnet Meil einen dritten Rezeptionsraum, indem er die Lesenden dazu anregt, das Werk mit seinen Illustrationen zu vergleichen. Bemerkenswert ist auch Meils Fähigkeit, Licht und Schatten in allen Kupferstichen detailliert darzustellen. Sie konnten dabei ähnlich dramatische Effekte wie bei der Beleuchtung von Theateraufführungen erzeugen, indem sie die Darstellungen der Szenen beleben und verstärken.

Emilia Galotti: Akt 2, Auftritt 3

Fazit: Die Theaterkupfer als Deutungsmedium


Die Kupferstiche von Meil ermöglichen es dem Betrachter, die Inszenierung und die dargestellten Emotionen nachzuvollziehen und eröffnen so einen neuen Zugang zu Lessings Werk. „Verbunden mit historischen Szenenbildern sind um 1800 Erläuterungen, die als frühe Formen der Drameninterpretation und Rollenanalyse zu begreifen sind.“10 Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Rezeption und Interpretation des Theaterstücks. Die zeitgenössische Leserschaft schätzt die Kupferstiche nicht nur als dekorative Elemente, sondern auch als wichtige Interpretationshilfen des Dramas. Diese Doppelfunktion der Theaterkupfer bildet einen bedeutenden Medienwandel im 18. Jahrhundert. Indem sie die dargestellten Szenen festhielten, halfen sie, die Dramatik und die Botschaften von Lessings Stück zu vermitteln und zu bewahren: „Übertragen auf das Theater treten neben das publizierte Bild und den gedruckten Text noch die Aufführung auf der Bühne und das Publikum im Proszenium als weitere Wirklichkeitssphären.“11


Fußnoten

1 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für gebildeten Stände: Conversations-Lexicon, Bd. 10 (Leipzig: Brockhaus, 1820), 973. 

2 Vgl. Alexander Košenina, „Seltene Theaterkupfer des 18. Jahrhunderts“, Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 33 (2023): 410. 

3 Alexander Košenina, „Seltene Theaterkupfer des 18. Jahrhunderts“, Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 33 (2023): 974.

4 „Gemälde und Kupferstiche“, in Theater-Kalender auf das Jahr 1775 (Gotha, [Ende 1774]), 32. (Verfasser nicht ermittelt.)

5 Elke Monika Bauer, „Wirkungsgeschichte“, in Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, von Gotthold Ephraim Lessing, hrsg. von Winfried Woesler (Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2004), 275. 

6 Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen (Berlin: Christian             Friedrich Boß, 1722), 8. 

7 Lessing, Emilia Galotti, 43.

8 Alexander Košenina, „Erläutere Theaterkupfer als Vermittler zwischen Bühne, Stück und Zuschauer“, in Medien der Theatergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, hrsg. von Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2015), 152. 

9Lessing, Emilia Galotti, 34. 

10Košenina, „Erläutere Theaterkupfer als Vermittler zwischen Bühne, Stück und Zuschauer“, 151.

11Košenina, „Erläutere Theaterkupfer als Vermittler zwischen Bühne, Stück und Zuschauer“, 169.

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