Invierno Porteño


 Das Bandonéon von Yosra Khamis

Die beiden Tische standen dicht am Rand der Parkettfläche, einander gegenüber. Er saß mit jener Eleganz, die mehr durch Stille als durch Worte führt. Sein Blick fand sie sofort; ein Engel in einem feuerroten Kleid, mit hochgesteckten schwarz glänzenden Haaren. Mit gekreuzten Beinen saß sie da, die Finger um das Weinglas geschlossen. Ihre Augen folgten den tanzenden Schuhen, als wolle sie keinen Schritt des Milonga del Angel verpassen. Ihr Atem, ihr Blick, selbst das kaum wahrnehmbare Zucken ihrer Brauen tanzten mit, wie damals, als sie ihm zum ersten Mal zugesehen hatte. 

Die Glasscheibe war immer die Grenze gewesen. Sie war dünn, doch sie hielt mehr zurück als jede Tür. Auf der einen Seite leitete er seine Kurse im Raum vollkommener Beherrschung, auf der anderen beobachtete sie ihn. Nur in diesen Momenten sprachen sie miteinander: er durch seine Schritte, sie durch ihre Blicke. Wenn er tanzte, erzählte das Bandoneón und sie verstand jede Silbe. Jeder Schritt, jede Handberührung und jeder Gesichtsausdruck zogen ihren Blick an. Er liebte diesen Blick, zu ehrlich, zu jung, zu verletzlich. Doch gerade deshalb machte er ihm das Herz schwer. Ein heimlicher Dialog, den niemand außer ihnen hörte. So verharrten sie, Jahr um Jahr.

Draußen regnete es und Piazzolas Melodie fiel wie kaltes Wasser. Sie schien die Tropfen an die Scheiben zu locken, als wollten sie mithören. Nachdem das Stück endete, schluckte und holte sie tief Luft, als müsse sie wieder in die Wirklichkeit zurückkehren. Das Bandonéon hauchte die ersten Töne von Oblivion in der ganzen Pista, jenen Klang, der sie nie losgelassen hatte. Am anderen Ende des Saals stand er, ein wenig gelebter, ein wenig stiller. Aber mit demselben Blick, der nie nur sah, sondern berührte. Er ging zu ihr und sein Blick traf ihren. Er schaute ihr tief in die nachtschwarzen Augen und reichte seine Hand wie eine Frage geöffnet. Sie lächelte und legte mit einem kurzen Nicken ihre Fingerspitzen an seine Hand. 

Sie traten auf das Parkett. Mit dem ersten Paso zog er sie sanft zu sich. Sein linker Fuß glitt vor, ihrer antwortete rückwärts. Ein langsamer Dreh; sein rechter Arm um ihren Rücken, ihre linke Hand an seine Schulter, Abrazo. Keine Worte, nur Nähe. Der Boden unter ihnen verwandelte sich in die Bühne eines Traums. Die Augen geschlossen, die Schulterblätter zeichneten ein flüchtiges Relief, und ihr Atem passt sich dem seinen an. Er kannte ihn sofort, ihren Duft. Ihr Körpergeruch war wie eine vertraute Kälte. Etwas Winterhaftes darin, wie der erste kalte Morgen im Hafenviertel, wenn der Atem sichtbar wird und Erinnerungen aufsteigen. Das Bandonéon zog lang und die Geigen bebten. Die Melodie schwebte zwischen Sehnsucht und Stille, ein Flüstern aus längst vergangenen Jahren. Je dunkler das Bandonéon klang, desto schwerer lag die Sehnsucht. Als die letzten Töne verklangen, blieben sie noch einen Augenblick in der Haltung des letzten Schritts stehen, eingefroren in einem Bild. Bevor die Welt sie wieder voneinander löste, flüsterte sie: „Warum jetzt?“. Seine Stille verriet mehr als jede Erklärung. Eine Stille, die nur entsteht, wenn Zeit ihre Spuren hinterlassen hat. 

Dann ertönte der Beginn von Soledad. Ein Wort, das sich wie ein verlorener Schritt im Saal ausbreitete. Ein anderer verneigte sich und bat um den nächsten Tanz. Und er trat den Weg zurück zum Tisch an. Jeder Schritt fühlte sich an, als ginge er durch Wasser. Die Wärme ihres Körpers gegen seinen verflog und hinterließ eine Leere. Er beobachtete sie, doch diesmal ohne Glasscheibe. Er sah zu, wie sie die Pista mit jener selbstverständlichen, schimmernden Schönheit beherrschte. Sie tanzte weit weg, wunderschön und unberührbar, und Soledad breitete sich in ihm aus wie ein großer, dunkler Raum. Der Saal drehte sich gemächlich, ein Meer aus Wellen und Musik. Und er saß da, still, doch mit einem Herzen, das lauter schlug als jedes Bandonéon. 

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